Klassenzimmer
© Veit Mette

Lehr-Fallstudien: Turbo-Abitur

In den deutschen Ländern hat eine bildungspolitische Frage in den letzten zwei Dekaden viel Aufmerksamkeit erfahren, die Frage nach dem richtigen Weg zum Abitur - vor allem wie lange dieser denn dauern soll. In einem unwiderstehlichen Trend führten die Länder eines nach dem anderen das G8-System ein, die gymnasiale Schulzeit wurde damit von neun auf acht Jahre verkürzt. Doch es dauerte nicht lange, da stellten sich erhebliche Probleme im Umsetzungsprozess dieser Reform ein. Vor allem die betroffenen Schüler, Eltern und Lehrer waren unzufrieden mit den Entwicklungen. Der Ruf nach einer Rückkehr zu G9 wurde laut und gewann zunehmend an Kraft.

Die vorliegende Falldarstellung thematisiert die schrittweise Einführung und die scheibchenweise Rückabwicklung der G8-Reform in Hessen. Dabei rücken die politischen Rahmenbedingungen in den Blick, der Fokus liegt allerdings auf dem Umsetzungsprozess. Welche Implementationsdefizite ergaben sich und welche unbefriedigenden Begleiterscheinungen stellten sich ein? Welche treibenden Faktoren lassen sich für den Politikwandel identifizieren? Und schließlich: Wie sind die neuen Regelungen zur Schulzeit bis zum Abitur in der politisch-strategischen Analyse einzuordnen?

"Scheibchenweise Abkehr vom Turbo-Abitur Die bildungspolitische Rückabwicklung der G8-Reform in Hessen."

Am 27. Januar 2008 endete eine – wohlgemerkt kurze, dafür aber lange nicht vorgekommene – politische Ära. Der Wahlabend in der CDU-Geschäftsstelle in Wiesbaden verdiente nicht die Bezeichnung Wahlparty, es knallten keine Sektkorken, gefeiert wurde woanders. Nur lange Gesichter – es bedarf nicht viel Vorstellungskraft, wie tief die Stimmung an diesem für die hessische CDU denkwürdigen Abend im Keller steckte, eben genau so tief wie sich der Verlust einer absoluten Mehrheit anfühlt. Hessen musste 33 Jahre auf eine Einparteienregierung warten, zuletzt war dies 1970 der Fall. 2003 war die CDU der große Wahlgewinner gewesen. Am 27. Januar 2008 blieb davon nur Fassungslosigkeit übrig. Die CDU stürzte um zwölf Prozentpunkte auf 36,8 Prozent, die SPD holte fast acht Prozentpunkte auf und kam mit 36,7 Prozent auf Tuchfühlung an die CDU heran, an der vorbei mittlerweile eine Regierung gebildet werden konnte. Roland Koch (CDU), hessischer Ministerpräsident, war an diesem Abend sichtlich davon gezeichnet.[1]

Ursachenforschung wurde betrieben, viele Väter wurden dem CDU Wahldebakel zugeschrieben, jedoch stand ein Grund für die hohen Stimmenverluste dabei besonders im Fokus der Wahlanalysen: die Schul- und Bildungspolitik der hessischen CDU.[2] Nicht umsonst ist Bildungspolitik das Herzstück der Landespolitik schlechthin und bei Landtagswahlen zunehmend wahlentscheidend.[3] Zudem war im hessischen Landtagswahlkampf 2008 das bildungspolitische Großprojekt G8, also die flächendeckende Einführung des achtjährigen gymnasialen Bildungsganges, Stein des Anstoßes und zentraler Mobilisierungsfaktor. Die hessische CDU, unter Führung ihres Vorsitzenden und Ministerpräsidenten Koch sowie der Kultusministerin Karin Wolff (CDU), versuchte durchzuregieren. Der lautstark geäußerte Protest an G8 wurde leichtfertig zur Seite gewischt, die verantwortlichen Politiker gaben sich überzeugt, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. 2004 wurde G8 in Hessen beschlossen, auf die Umsetzung musste das Land jedoch bis 2005 warten – ein Stufenplan sah vor, dass die flächendeckende Einführung nicht sofort, sondern in zwei Schritten vollzogen werden sollte. Mit dem Schuljahr 2006/07 war die flächendeckende Einführung dann in Hessen vollbracht. Es dauerte nicht lange, da brach ein wahrer Proteststurm der Eltern über die Landespolitik herein. Diese Bewegung reichte auch weit bis ins konservative Stammwählermilieu hinein.[4] Doch die Kultusministerin zeigte sich trotz allen Rechtfertigungsdrucks unnachgiebig. Auf die Frage, ob G8 ein Fehler war, stellte sie fest: „Nein. Es ist nach wie vor unter dem Gesichtspunkt der europäischen Bildungszeiten und unter dem Gesichtspunkt des lebensbegleitenden Lernens nach der Schule eine richtige Entscheidung. [...] Gerade Hessen hat – im Gegensatz zu anderen Ländern – die Verkürzung in einer sehr sensiblen mehrstufigen Form eingeführt. Wir haben die Probleme und Schwierigkeiten der abrupten Einführung von einem Schuljahr zum nächsten in anderen Bundesländern sehr genau beobachtet und deshalb erst nach langer Vorbereitung und mit Zustimmung des Landeselternbeirats als 13. von 16 Bundesländern überhaupt G8 eingeführt.“[5]

Zeitsprung: 2014. Von dem unverrückbaren Festhalten an G8 und dem unerschütterlichen Glauben mit der G8-Reform das Richtige zu tun, ist bundesweit in der Landespolitik nicht viel übrig geblieben. In jüngster Vergangenheit hatte die Debatte um die angemessene Zahl an Schuljahren bis zum Abitur mehr als einmal die Gemüter erhitzt, gerade auch in Wahlkampfzeiten. Nach einer Phase der Einführung einer verkürzten Abiturzeit von acht Jahren setzte die Furcht der Parteien vor Stimmverlusten ein reihenweises Umsteuern in Gang, das von runden Tischen und Schulversuchen in Nordrhein-Westfalen[6] über die optionale Rückkehr zum neunjährigen Bildungsgang (G9) in Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein[7] bis hin zur flächendeckenden Rückkehr zu G9 in Niedersachsen reicht. Zum Schuljahr 2015/16 wird in Niedersachsen das G9 wieder der Regelfall sein – genauso wie es über viele Jahrzehnte gewesen war.[8]

Auch in Hessen wurde in Sachen G8 – wenn auch nicht ganz so weitreichend – die Uhr zurückgedreht: Zum Schuljahr 2014/15 wurde den Schulen die Option eröffnet, ein paralleles Angebot acht- (G8) und neunjähriger Bildungsgänge zu schaffen, so dass nun auch innerhalb eines Jahrgangs die Möglichkeit besteht, zwischen G8- und G9-Klassen zu wählen. Die Mehrheit der Gymnasien hat sich schon zu diesem Schuljahr vom reinen G8-System verabschiedet.[9] „Mit der Änderung des Schulgesetztes und der Einbeziehung der laufenden Jahrgänge in die selbstständige Entscheidungskompetenz der Schulgemeinden über G8 und G9 baut die Regierungskoalition die Wahlfreiheit auf ein im Ländervergleich beispielloses und alle rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfendes Höchstmaß aus. In keinem Bundesland wurde so frühzeitig und weitreichend auf den Wunsch der Schulgemeinden nach Wahlfreiheit für G8 und G9 reagiert wie in Hessen.“[10] So kommentierte Claudia Ravensburg, CDU-Abgeordnete im hessischen Landtag, die Novellierung des hessischen Schulgesetzes im Mai 2014. Das Tor in die ‚schöne neue alte G9-Welt‘, die von so vielen Eltern herbeigesehnt wurde, hatte maßgeblich die erste schwarz-grüne Koalition aufgestoßen. Sie regiert Hessen seit Jahresbeginn 2014, die erste ihrer Art in einem deutschen Flächenland. Weder Roland Koch noch Karin Wolff begleiten politisch die Rückabwicklung der Reform, andere haben ihren Platz eingenommen.

Doch wie kam es eigentlich dazu, dass in Hessen in nur einer Dekade das Konzept G8 Aufstieg und Niedergang am bildungspolitischen Horizont erlebte? Welche Implementationsdefizite ergaben sich und welche unbefriedigenden Begleiterscheinungen stellten sich ein? Welche treibenden Faktoren lassen sich für den Politikwandel identifizieren? Und schließlich: Wie sind die neuen Regelungen zur Schulzeit bis zum Abitur in der politisch-strategischen Analyse einzuordnen?

Schulzeitverkürzungsdebatte und Hessens Weg zu G8

In der bildungspolitischen Arena war das Konzept einer verkürzten gymnasialen Schulzeit keinesfalls neu. Bereits in den 80er Jahren waren Versuche der Schulzeitverkürzung, die damals vor allem finanzpolitisch begründet waren, an breitem Widerstand von Lehrer- und Elternvertretungen gescheitert. Das neunjährige Gymnasium hatte daraufhin mehrere Jahrzehnte als Regelform Bestand – eine verkürzte Schulzeit wurde nur in Modellversuchen für Hochbegabte realisiert.[11] Diese Kontinuität wurde erst mit der Schulzeitdebatte nach der Wiedervereinigung aufgebrochen. Die Mehrheit der neuen Länder modifizierte ihr Schulsystem nur leicht und hielt an ihren achtjährigen Gymnasien (G8) fest; selbst dort – in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt – wo man zuerst auf eine neunjährige gymnasiale Schulzeit umstellte, kehrte man schließlich zu 12 Schuljahren zurück. Die Parallelität acht- und neunjähriger Bildungsgänge fügte sich in den Diskurs um den Flickenteppich innerhalb des deutschen Bildungsföderalismus ein und befeuerte eine neue Debatte um eine Schulzeitverkürzung, die an einer grundsätzlichen Kontroverse um die Qualität der gymnasialen Bildung und die Ausgestaltung der Oberstufe angelehnt war. Entscheidend war, dass die Kultusministerkonferenz (KMK) 1997 die Dauer der Schulzeit bis zum Abitur über die abgeleisteten Schulstunden definierte und nicht über die Gesamtdauer der Schuljahre. Dafür mussten einem Abiturienten nach acht Jahren Gymnasium mindestens 265 Jahreswochenstunden erteilt worden sein.[12]

Die Argumente für G8 passten sich in die Begründungsmuster einer zunehmenden zeitlichen Vorverlagerung und Verdichtung institutionalisierter Bildungsprozesse ein, die ab Mitte der 90er Jahre an Bedeutung gewannen – die Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen sind nur weitere Beispiele hierfür.[13] Ausnahmsweise spielte der Pisa-Schock bei dieser deutschen Bildungsreform nur eine untergeordnete Rolle. Es waren vielmehr vor allem ökonomische und demographische Argumentationszusammenhänge, die diese Entwicklung beförderten: Deutschland könne sich eine längere Schulzeit schlicht nicht länger leisten. Vor allem ein Blick ins Ausland bestärkte diese Sichtweise, denn das G8-Konzept wurde als Garant verstanden, den Anschluss an internationale Ausbildungszeiten zu schaffen – dies war der Hauptgrund für die flächendeckende Einführung achtjähriger Bildungsgänge im Gymnasium in nahezu allen westdeutschen Ländern.[14] Wie eine große reformpolitische Welle erfasste die Umstellung von neun- auf achtjährige gymnasiale Bildungsgänge ein Land nach dem anderen, nur Rheinland-Pfalz widerstand diesem Trend. Das Saarland war das erste Land, das G8 ab dem Schuljahr 2001/02 einführte. Nur ein Jahr später folgte Hamburg, 2003 dann Sachsen-Anhalt und 2004 führten ganze sechs Länder G8 ein – darunter auch Hessen.

Manch einem Beobachter mochte das dichte Maßnahmenbündel der Ära Koch/ Wolff – Roland Koch (CDU) war hessischer Ministerpräsident, der von 1999 bis 2003 mit der FDP als Koalitionspartner und von 2003 bis 2008 sogar mit einer christdemokratischen absoluten Mehrheit regierte, Karin Wolff seine Kultusministerin – „an der Kippe zu hektischem Reform-Aktionismus“[15] erscheinen. Was für die Regierung ein schulpolitisches Aushängeschild war, bedeutete für die einzelnen Schulen die Bewältigung mehrere Herausforderungen gleichzeitig. Alleine drei Gesetze zur Qualitätssicherung an hessischen Schulen in nur fünf Jahren – 1999, 2002 und 2004 – eröffneten mehrere Baustellen. Zudem wurden Initiativen zur Eigenständigkeit der Schulen und zu einer Stärkung der Schulautonomie verabschiedet. Darüber hinaus legte die CDU ihre frühere Skepsis gegenüber Ganztagsangeboten ab und versuchte, dieses Feld gegen die SPD zu besetzen. Schließlich G8: Neben den schon genannten Wettbewerbsargumenten versuchte die CDU auch das gegliederte Schulsystem insgesamt zu stärken, indem die einzelnen Schulformen stärker ausdifferenziert werden sollten.[16] Dies war unter anderem darauf zurückzuführen, dass Hessen als „der exponierteste Schauplatz bundesdeutscher Schulkämpfe“[17] gelten konnte und so manche strukturpolitische Bildungsfrage in den „Rang kulturkämpferischer Fundamentalkonflikte“[18] gehoben wurde.

Folglich ließ auch der politische Streit bei der G8-Einführung nicht lange auf sich warten. Eine schrittweise Einführung verhinderte jedoch den ganz großen bildungspolitischen Knall. 1999 eröffnete ein Gesetz erste Möglichkeiten, G8 auf Bewilligungsbasis durch das Kultusministerium an einzelnen Schulen zu implementieren. Aufgrund der Tatsache, dass erst 2003 ein erstes (privates) Gymnasium G8 einführte – vorher gab es nur 17 G8-Klassen an anderen Schulen – schlug dies noch keine hohen Wellen.[19] Durch das dritte Gesetz zur Qualitätssicherung wurde das 'Turbo-Abitur' in Hessen verbindlich eingeführt. Die Schulen hatten damals keine Wahlfreiheit, auch wenn sie nicht von heute auf morgen den Umstieg auf G8 vollziehen mussten. Die ersten Gymnasien verabschiedeten sich jedoch zum Schuljahr 2005/06 von G9, 60 Prozent der Gymnasien stellten auf den achtjährigen Bildungsgang um. 2006/07 war dann schließlich die flächendeckende Einführung vollzogen.[20]

Nachwehen einer Reform

Die politische Beschlussfassung zu G8 steht in Hessen auf einem Blatt, wie die Reform konkret umgesetzt wurde auf einem ganz anderen. In Deutschland haben sich zwei differierende Organisationsmodelle der Schulzeitverkürzung herausgebildet. Zum einen ist dies das Modell 5+3, zum anderen das Modell 6+2. Die erste Variante spart das zu reduzierende Schuljahr in der Sekundarstufe I (Mittelstufe, bei G8 5. bis 9. Klasse) ein, wobei die Sekundarstufe II (Oberstufe, bei G8 10. bis 12. Klasse) annähernd unverändert beibehalten wird – die Mehrzahl der Länder hat sich für dieses G8-Modell entschieden. Die zweite Variante hingegen behält die sechsjährige Sekundarstufe I bei und verkürzt die Oberstufe dafür um ein Jahr. Dabei kommt der Jahrgangstufe 10 eine Doppelfunktion zu, weil die KMK festgelegt hat, dass die Oberstufe eine einjährige Einführungs- und eine zweijährige Qualifikationsphase zu umfassen hat.[21]

Hessen hatte sich explizit für die Ausgestaltung von G8 für das Modell 5+3 entschieden. Dies ging dementsprechend mit einer Verdichtung des Lernstoffes und mit einer erhöhten Wochenstundenanzahl in der Mittelstufe einher – auch gerade weil es zu keiner Anpassung der Curricula gekommen war. Befürchtungen von den Betroffenen wurden in breiter Front artikuliert: Schon zu Beginn der Einführung kam es zur Allianzbildung des Landeselternbeirats, des hessischen Philologenverbandes und des Landesschulsprechers – zweifelsfrei eine ungewöhnliche Allianz. Das Bündnis sprach sich gegen eine Verdichtung der Stundentafeln in der Sekundarstufe I aus und warnte davor, dass eine Überforderung von Gymnasiasten in Zukunft drohe oder die Anforderungen heruntergeschraubt werden müssten: beides Szenarien, die als nicht hinnehmbar eingeschätzt wurden.[22] Kultusministerin Wolff hielt dagegen: „Ich glaube, dass wir die richtige Form [der gymnasialen Schulzeitverkürzung; S.Z.] gewählt haben, dass wir die sensibelstmögliche Art der Einführung gewählt haben. Wenn Sie vergleichen mit dem, was in anderen Ländern geschehen ist, dann glaube ich, dass feststeht, dass wir dies konsequent, aber in aller Ruhe und Form durchgeführt haben.“[23]

So optimistisch wie die Kultusministerin sah sonst wohl niemand die Implementationsfortschritte. „Am Beispiel der Schulzeitverkürzung wird deutlich, wie die notwendigen Reformen in Hessen behutsam, präzise und unter Beachtung der Zusammenhänge und Folgen vorbereitet und realisiert werden.“[24] Ganz im Gegenteil zeichnete sich das Bild ab, dass mit ansteigender Zahl von G8-Gymnasien auch die Kritik immer lauter wurde. Es war insbesondere der Kurs der Kultusministerin, der zu massiver Kritik führte. Als die ersten G8-Kinder die 7. Klasse erreichten, schlug 2007 eine massive Kritikwelle über Wolff zusammen: Der Hessische Landeselternbeirat warf der Kultusministerin handwerkliche Mängel bei der Ausgestaltung von G8 vor. In die verkürzte Zeit der fünften und sechsten Klasse sei der Unterrichtstoff aus den bisherigen, nicht reduzierten Lehrplänen gequetscht worden, was zu enormen Stoff- und Stundenbelastungen für die Kinder führe.[25] Die Elternbeiratsvorsitzende Kerstin Geis wies auf die Konsequenzen hin: „Stress, Überbelastung und mangelnde Freizeit sind die Folge.“[26] Weil die Kinder mehrmals in der Woche ganztags unterrichtet wurden, befürchtete man auch, dass den G8-Kindern die Zeit fehle, um ein Musikinstrument zu erlenen oder einem Sport im Verein nachzugehen – Musikschulen und Sportvereine gehörten deshalb ebenfalls zu den scharfen Kritikern von G8.[27]

Die Kritik des Elternbeirats ging noch weiter: Darüber hinaus fehlten die baulichen Voraussetzungen für den nötigen Ganztagsbetrieb, den G8 mit sich brachte. Oftmals könne deswegen kein Mittagessen angeboten werden, weil sich der Bau von Mensen verzögere. Die Schulen seien von den finanziellen Herausforderungen bei chronisch knappen Kassen überfordert. Hinzu käme, dass dem Land das Geld für die nötigen Lehrerstellen fehle. In dieses Horn bliesen nicht nur die Eltern, vor allem auch die Lehrer machten gegen die Reform mobil. Neben dem Nachholbedarf bei der Infrastruktur machten sich die Lehrer Sorgen über die Lerninhalte. Auf G8 ausgelegte Schulbücher gab es zum damaligen Zeitpunkt jedenfalls keine.

Der Vorsitzende des hessischen Philologenverbandes, Knud Dittmann, hielt darum die Einführung von G8 für eine „gravierende Fehlentscheidung“, die Reform sei in Deutschland „ganz ohne Not übers Knie gebrochen worden.“[28] Im Gegensatz zu den Elternvertretern, die auf eine Verschlankung der Lehrpläne drängten, hielt so mancher in der Lehrerschaft dies für einen Euphemismus. Verschlankung der Lehrpläne sei „eine flotte Redensart“, es bestünde die Gefahr, dass dies auf weniger Bildung hinauslaufe, weil der Lerninhalt damit verengt werde.[29] Die Konsequenzen für die Schüler ließ sich einfach errechnen: ein Achtklässler hatte im Ganztagsbetrieb unter G8 40 Wochenstunden plus Hausaufgaben zu absolvieren.[30]

Politisches Beben und erster Kurswechsel

Die CDU unter Koch, seit 2003 mit absoluter Mehrheit ausgestattet, deckte zum Jahreswechsel 2007/2008 Wolff noch den Rücken. Den sich entwickelnden Proteststurm wollte man über sich hinweg ziehen lassen, irgendwo hinter den dicken schwarzen Wolken würde schon wieder ein sattes Blau am bildungspolitischen Horizont hervor scheinen. Immer wieder verwiesen Ministerpräsident Koch und Kultusministerin Wolff stur darauf, dass massive Wettbewerbsnachteile hessischer Abiturienten auf dem Arbeitsmarkt drohen würden, sollte Hessen als einziges Bundesland aus der Front von G8-Ländern ausscheren. Sie waren noch immer von der Richtigkeit ihres Kurses fest überzeugt. Deshalb lehnten sie eine Rückkehr zu G9 oder Nachbesserungen an der Reform strikt ab – offensichtlich unterschätzen sie aber die Nachhaltigkeit der Proteste. Stattdessen sprach Koch nur Monate vor der Landtagswahl im Januar 2008 lieber von „normalen Stress“ bei der Umstellung und „Reibungsverlusten“. Die Verantwortung sah Koch bei den Lehrern, die ihre Lehrpläne entrümpeln sollten, um die Schüler zu entlasten.[31] Diese Haltung gegenüber den wahrgenommenen Implementationsdefiziten wurde von den Wählern als Ignoranz gewertet. Die allgemeine Unzufriedenheit ließ erst die Kompetenzwerte der CDU einbrechen – 71 Prozent waren zum Jahresbeginn 2008 mit der Arbeit der hessischen Landesregierung in der Schulpolitik unzufrieden, außerdem hängte die SPD (39 Prozent) die CDU (25 Prozent) um 14 Punkte in der zugeschriebenen Bildungskompetenz ab.[32] Dann brach die CDU bei der Landtagswahl im Januar 2008 um zwölf Prozentpunkte ein.[33] Die Ursache lag maßgeblich in deren Schulpolitik.[34]

Das Wahlergebnis und Ypsilantis-Wortbruch, nicht mit den Linken eine Regierung bilden zu wollen,  bescherten dem Land die sprichwörtlich unklaren ‚hessischen Verhältnisse‘. In der Schulpolitik drohte Stillstand, die Kritik außerhalb der parlamentarischen Arena wurde in diese zurückgespiegelt. Dass SPD und Grüne kein gutes Haar an der G8-Reform und der Kultusministerin ließen, kann nicht überraschen; die SPD forderte die komplette Rückabwicklung der Reform, die Grünen zumindest starke Nachbesserungen. Allerdings hielt sich auch die FDP nicht mit Kritik zurück. Dorothea Henzler, schulpolitische Sprecherin der FDP, ließ klar vernehmen: Die verkürzte Gymnasialzeit sei „sehr schlampig eingeführt worden;“ Wolff habe „nie wirklich den Schulen zugehört und nie wirklich Politik von Seiten der Schulen gemacht.“[35] Weil 15 von 16 Bundesländern G8 eingeführt hatten, käme eine Abkehr jedoch einem Abgehängt-Werden gleich. In diese schulpolitische Sackgasse wollte die FDP Hessen ebenso wenig führen wie die CDU.

Die bis dato amtierende Kultusministerin Wolff trat aufgrund der anhaltend heftigen Kritik im Februar 2008 zurück und machte somit den Weg für einen kleinen Neuanfang in der G8-Reform frei. Ihr Nachfolger wurde – geschäftsführend – Jürgen Banzer (CDU). Dieser war wesentlich konzilianter gegenüber der Opposition eingestellt und machte insbesondere der FDP und den Grünen inhaltliche Angebote. Nicht zufällig bemühte sich Koch parallel um die Bildung einer Jamaika-Koalition, um eine stabile Regierung bilden zu können. So setzte Banzer die Wahlfreiheit für Gymnasien auf die Agenda und versprach, Nachbesserungen bei G8 durchzusetzen, wie etwa Kürzungen der Lehrpläne – diese Punkte waren zum Teil deckungsgleich mit Forderungen der Grünen und der FDP.[36] Dennoch wollte Banzer ein behutsames Reformtempo anschlagen, es nütze niemanden etwas, wenn man die Schulen mit zu vielen Veränderungen gleichzeitig überfordere. Vielmehr sollten die Reformen im breiten Konsens beschlossen werden, um den Schulen verlässliche Rahmenbedingungen bieten zu können und gleichzeitig möglichst viel eigenen Gestaltungsspielraum zu ermöglichen. Von einer Abkehr von G8 konnte auch keine Rede sein, es handelte sich vielmehr um ein behutsames Nachsteuern, was deutlich aus den Äußerungen Banzers hervorging: „G8 muss in Hessen der Regelfall auf dem Weg zum Abitur bleiben. G8 bietet jungen Menschen ein Jahr mehr Zeit, um sich nach dem Abitur beruflich wie persönlich zu orientieren und zu entwickeln. Diese Chance sollten wir ihnen nicht nehmen.“[37] Die Idee der Wahlfreiheit – Gymnasien sollten in Zukunft wählen können, ob sie G8 oder G9 anbieten wollen – sollte dafür das passende Konzept bieten: „Schule weiß am besten, was der richtige Weg für sie ist.“[38] Zum Schuljahr 2008/09 konnten kooperative Gesamtschulen schon selbstständig entscheiden, ob sie ihre Schüler in acht oder neun Jahren zum Abitur führen. Allerdings wurde das neue Wahlfreiheitsmantra für Gymnasien nicht in die Tat umgesetzt – wohl auch auf Druck von Ministerpräsident Koch hin.[39]

Jedoch waren die Nachbesserungen an der G8-Ausgestaltung nach Verlautbarungen des Kultusministers nur eine Übergangslösung bei der Umstellung der Lehrpläne: Die verstärkte Ausrichtung auf die Vermittlung von Kern- und Methodenkompetenz seien nur Zwischenschritte auf dem Weg zu den Bildungsstandards und Kerncurricula, welche die Lehrpläne zum Schuljahr 2010/2011 ablösen sollten.[40] Deshalb wurden die G8-Lehrpläne zum Schuljahr 2008/2009 überarbeitet und um ca. ein Fünftel gestrafft. Der Leitgedanke der Wahlfreiheit wurde mit dieser Überarbeitung kombiniert, um den Schulen weitere Flexibilität einräumen zu können. Diese konnten nun selbst entscheiden, ob sie die zweite Fremdsprache in der 5., 6. oder 7. Klasse anbieten. Das hessische Kultusministerium hatte zudem die Anzahl der mindestens zu schreibenden Klassenarbeiten in den Hauptfächern reduziert, um die Belastung der Schüler zu mindern. Wie viele Arbeiten darüber hinaus geschrieben wurden, oblag jedoch wiederum den Schulen.[41] Das Resultat von diesen Nachbesserungen war eine mangelnde Vergleichbarkeit von G8 an den einzelnen Schulen, sprich G8 war nicht immer gleich G8. Vielmehr war die Belastung der Schüler auch vom Schulprofil abhängig, etwa ob es sich um ein auf Fremdsprachen spezialisiertes Gymnasium handelte oder um ein naturwissenschaftlich orientiertes.[42]

Eltern machen Druck

Nachdem Banzer eine sanfte Reform in Richtung einer Flexibilisierung von G8 angestoßen hatte, verschwand das Thema als dominierender Faktor von der Agenda, obwohl viele Eltern die Korrekturen als unzureichend empfanden. Im Wahlkampf 2009 ging es vor allem um den Ypsilanti-Wortbruch und danach hatte die Kultusministerin in der daraufhin gebildeten schwarz-gelben Regierung, Dorothea Henzler (FDP), andere Prioritäten, ihr Interesse galt der 'selbständigen Schule'. Außerdem verlor die G8-Diskussion merklich an Brisanz und Lautstärke, nachdem die ersten Nachbesserungen an der G8-Reform ins Werk gesetzt waren – auch wenn sich an der grundsätzlichen Kritik nicht viel änderte. Immerhin war nicht mehr viel von dem romantisierenden Protest gegen die ‚Abschaffung der Kindheit‘ zu spüren.[43] Doch zeigten Umfragedaten, dass sich immer noch 71 Prozent der befragten Eltern für eine Rückkehr der Gymnasien zu G9 aussprachen.[44] Dies schlug sich 2010 in einer Unterschriftensammlung für eine Petition an den Landtag nieder, mit der eine Rücknahme der Schulzeitverkürzung in der Mittelstufe erreicht werden sollte. Die Unterschriftenaktion wurde vom Landeselternbeirat und der Landesschülervertretung organisiert. Aus dem Kultusministerium wurde die G8-Regelung hingegen verteidigt. Hessen biete mehrere, unterschiedlich lange Wege zum Abitur an und habe mit den kooperativen Gesamtschulen einen ‚entschleunigten‘ Bildungsweg anzubieten. Darüber hinaus seien die Klassen verkleinert, die Anzahl an Klassenarbeiten gesenkt und eine flexiblere Stundenverteilung ermöglicht worden – somit habe man das Maximum an Möglichkeiten ausgeschöpft.[45] Die Petition bekam keine parlamentarische Mehrheit.

Am 31. August 2010 wurde Volker Bouffier (CDU) Ministerpräsident in Hessen und löste Roland Koch nach elf Jahren Amtszeit ab. Zu Beginn seiner Regierungszeit schenkte er dem Thema keine weitere Beachtung; 2012 hatte die erste G8-Generation die Schule durchlaufen. Erst der CDU Landesparteitag im Juni 2012 brachte eine überraschende Kehrtwende – es sollte ein Schlüsselmoment in der G8-Rückabwicklung werden: Bouffier griff Banzers nicht umgesetzte Idee nach Wahlfreiheit für Gymnasien auf und erklärte diese zum neuen Regierungsvorhaben. Ursächlich dürfte dafür einerseits die Klagen seiner Parteifreunde aus der ländlichen Region in Ost- und Mittelhessen gewesen sein. Hier war der Frust vieler Eltern über das G8-System besonders groß, was einen Ansturm auf die kooperativen Gesamtschulen, die den neunjährigen Bildungsgang anboten, ausgelöst hatte.[46] Andererseits warf wohl auch die im Jahr 2013 anstehende Landtagswahl ihren Schatten voraus. Zweifelsfrei hatte die CDU Schlüsse aus ihrem Wahldebakel aus dem Jahr 2008 gezogen. Die Umfragewerte sprachen eine eindeutige Sprache und skizzierten deutlich den bestehenden Handlungsbedarf der Regierung. Zum Jahresbeginn 2012 gaben 37 Prozent der Befragten an, dass Bildung und Schule das größte Problem in Hessen sei. Gleichzeitig waren aber nur 24 Prozent mit der Schulpolitik der Landesregierung zufrieden, hingegen waren 67 Prozent unzufrieden. Der wahrgenommene Kompetenzabstand zur SPD belief sich auf 14 Prozentpunkte (SPD 38, CDU 24).[47] Die Zahlen mussten die CDU an die Ausgangssituation vor der Landtagswahl 2008 erinnern – es drohte ein politisches Déjà-vu.

Die von dem politischen Manöver Bouffiers vollkommen überrumpelte, erst vor wenigen Tagen ins Amt gekommene Kultusministerin Nicola Beer (FDP) ebnete dem Versprechen des Ministerpräsidenten, zum Schuljahresbeginn 2013/14 die Möglichkeit der Gymnasien auf eine Rückkehr zu G9 zu schaffen, rechtlich den Weg, obwohl sie selber zu den G8-Befürwortern zählte.[48] Durch die Novellierung des Schulgesetzes vom 18. Dezember 2012 wurde den Gymnasien schließlich die Option eröffnet, zwischen einer fünf- und sechsjährigen Organisation der Mittelstufe zu wählen. Diese Organisationsänderung konnte jedoch nur von der Schulkonferenz beschlossen werden, bestehend aus Lehrern, Eltern und Schülern. Erging ein positiver Beschluss der Schulkonferenz, der sich auf einem curricular und pädagogisch begründeten und die sachlichen, personellen sowie unterrichtsorganisatorischen Möglichkeiten berücksichtigenden Konzept stützen musste, wurde die Organisationsänderung beginnend mit der 5. Jahrgangsstufe zum entsprechenden Schuljahr umgesetzt.[49] Das ‚Gymnasium der Zukunft‘ war somit auf eine reine Option zusammengeschrumpft, das verbindliche Projekt G8 de facto in Hessen gescheitert. So manchem Schulleiter kam die oktroyierte Umstellung wie Kultuspolitik nach dem Motto Versuch und Irrtum vor.[50]

Vielen Eltern und Schülern in Großstädten blieb die tatsächliche Wahlfreiheit jedoch verwehrt – in Wiesbaden beispielsweise bot zu Anfang kein einziges Gymnasium G9 an. Dies führte umgehend zur Bildung entsprechender lokaler Elterninitiativen, wie z.B. „G9 für Wiesbaden“. Umfragen an Wiesbadener Grundschulen ergaben, dass fast 90 Prozent der Eltern ihre Kinder auf ein G9-Gymnasium schicken wollten. Auf Landesebene sorgten die fehlenden G9-Angebote dafür, dass sich die Initiative „Pro G9“ bildete, die mit mehr als 100 000 Unterstützern die Abschaffung von G8 forderte. Auch zeigte die Demoskopie, dass das Thema Bildung und Schule in Hessen als das dringendste Problem angesehen wurde.[51] Worum es in dem Wahlkampf zum Landtag 2013 gehen würde, war somit bereits abzusehen.

Die neuen ‚hessischen Verhältnisse‘

Die Landtagswahl im September 2013 brachte das „historische Experiment“[52] Schwarz-Grün hervor. Die einstmals verfeindeten Parteien waren nun Partner geworden, das verbindende Glied in der Schulpolitik war die Wahlfreiheit. Das Kultusministerium ging nach vierjähriger Unterbrechung wieder an die CDU, Alexander Lorz wurde neuer Kultusminister. Das bildungspolitische Großprojekt lautete „Schulfrieden". Schwarz-Grün wollte es dem Willen der Eltern überlassen, ob deren Kinder nach G8 oder G9 das Abitur ablegen können. Ein erstes G9-Comeback war mit der Schulgesetznovellierung von 2012 schon geschaffen worden. Diesen Weg beschritten die beiden Koalitionspartner nun weiter und forcierten ihn. Am 28. Januar 2014 brachten die CDU- und Grünen-Fraktion eine abermalige Novellierung des Schulgesetzes in den hessischen Landtag ein. Dort hieß es:

„Im Gesetzesvollzug hat sich gezeigt, dass damit [gemeint ist die Beschränkung der G9-Option auf die 5. Jahrgangsstufe eines neuen Schuljahres; S.Z.] dem Willen der Eltern der betroffenen Schülerinnen und Schüler nicht ausreichend entgegengekommen werden konnte. Aus den Jahrgangsstufen 5 bis 7 der Schulen wurden Forderungen laut, mit in die Organisationsänderung einbezogen zu werden. […] Durch eine Änderung des Schulgesetzes wird die Möglichkeit zur Einbeziehung auch der Jahrgänge 5, 6 und 7 geschaffen, soweit der verfassungsrechtlich gewährleistete Grundsatz des Vertrauensschutzes das zulässt.“[53]

Wie sah nun die konkrete Umsetzung der Reform aus? Um eine möglichst zeitnahe Umstellung von G8 auf G9 für möglichst viele Schüler zu ermöglichen, konnten die Schulen ihre Vorbereitungen für diesen Schritt schon beginnen, obwohl das Gesetz noch das parlamentarische Verfahren durchlief. Bis zum 11. April 2014 hatten die Gymnasien Zeit, ein Konzept vorzulegen, wie sie in der Mittelstufe, also den zukünftigen 5. sowie den damals laufenden 6. und 7. Klassen, einen Wechsel ermöglichen wollten. Das Beschlussverfahren war komplex und mehrstufig angelegt. In einem ersten Schritt hatte das Kollegium ein umfassendes Konzept zu erarbeiten, das in der Gesamtkonferenz beschlossen werden musste – d.h. die Mehrheit der Lehrer und der Schulleitung hatte sich zu diesem Zeitpunkt für oder gegen einen Wechsel der Schulzeitdauer festgelegt. Erst danach entschieden die anderen Schulgremien und schließlich über eine anonymisierte Umfrage die Eltern. Der Grundsatz des Vertrauensschutzes, der 2009 durch den Verwaltungsgerichtshof in Kassel bekräftigt wurde, garantierte, dass es nicht zu einem entwertenden Eingriff in den Grundrechteschutz eines Schülers durch einen Beschluss der Schulkonferenz kam.[54] Dementsprechend konnte jeder Schüler zu den Bedingungen seine Schullaufbahn weiterverfolgen, für die er angemeldet war. In der Konsequenz bedeutete dies, dass nur eine Gegenstimme der Eltern in der anonymen Befragung zu einem Verharren der gesamten Jahrgangsstufe bei G8 führte. Einzige Ausnahme war, dass die Mindestgröße von 16 Schülern einer G8-Klasse zustande kam; hierbei zählte verbindlich jedoch nicht das Abstimmungsergebnis, sondern die Anzahl der Anmeldungen.[55] Trat dieser Fall ein, kam es zu einem Parallelangebot von G8- und G9-Klassen innerhalb einer Jahrgangsstufe.

Droht erneutes Reformchaos?

Die Vielschichtigkeit der Gymnasialzeitverlängerungsreform brachte erneute Umstellungsschwierigkeiten mit sich, die Kultusminister Lorz auch öffentlich eingestand. Er glaubte vor dem Hintergrund eines hohen Andrangs auf G9-Schulen daran, dass sich das Angebot von G8 und G9 an dem jeweiligen lokalen Bedarf ausrichten werde; das System müsse sich aber erst noch „zurecht rütteln“.[56] Schnell zeichnete sich ab, dass rechtlich zwar ein Wechsel der dann 8. Klassen zum Schuljahr 2014/15 möglich war, allerdings kam es praktisch nicht dazu. Die Wechselchancen der damaligen 7. Klassen waren sehr gering, da die konzeptionellen Hürden schlicht zu groß waren.[57] Ganz allgemein rief die Reform kein positives Echo hervor. Der hessische Philologenverband warnte vielmehr von den praktischen Folgen der Wahlfreiheit. Die von der schwarz-grünen Landesregierung geweckten Erwartungen könnten die Schulen in der Praxis kaum erfüllen. Die Warnungen richteten sich insbesondere auf ein paralleles Angebot von G8 und G9, was die Schulen extrem fordern würde. So müsste die zweite Fremdsprache in einem solchen Szenario vor extrem kleinen Klassen unterrichtet werden. Die dafür eingesetzten Lehrer fehlten dann an anderer Stelle. Besonders problematisch sei, wenn es nur eine G8-Klassse innerhalb einer Jahrgangsstufe gebe und diese die Oberstufe erreiche. Es sei dann so gut wie unmöglich, ein attraktives Angebot an Leistungskursen anzubieten, weil dies für 20 bis 30 Schüler nicht leistbar sei.[58] Minister Lorz sah ebenfalls diesen Punkt und gab zu, dass es schwierig sein könnte, ein umfassendes Angebot an Leistungskursen zu unterbreiten – möglicherweise bedürfe dies einer Kooperation mehrerer Schulen.[59] Elisabeth Waldorff, Vorsitzende der Landesrektorenkonferenz, wies auch darauf hin, dass den Schülern, die von G8 auf G9 wechseln, Stunden zurückerstattet werden müssen; insbesondere die laufenden 7. Klassen hätten dann eine sehr kurze Restmittelstufe.[60]

Der Umbruch in den hessischen Gymnasien löste unabhängig von dem letztlichen Resultat einen enormen Aufwand aus. Die Belastungen für die Lehrer und die Schulleitungen waren nicht zu unterschätzen, neue Konzepte und Stundentafeln fielen schließlich nicht vom Himmel.[61] Aus dem hessischen Philologenverband und der Landesrektorenkonferenz wurden deshalb schon Stimmen laut, die damit rechneten, dass es an vielen Schulen gar nicht zur Abstimmung der Eltern komme werde, weil die Schulgremien sich gegen einen Wechsel bestehender Klassen aufgrund der für alle Beteiligten unzumutbaren Bedingungen aussprechen würden. Dies führe dann wiederum zu Frustration und Streit innerhalb der Elternschaft und belaste zusätzlich das Verhältnis zu den Lehrern. Der Vorsitzende des Philologenverbands Dittmann meinte dazu: „Dies ist das Gegenteil des von der Politik angestrebten Schulfriedens, sofern darunter der Frieden an der einzelnen Schule gemeint ist.“[62]

Darüber hinaus haben die rechtlichen Regelungen der Gymnasialzeitverlängerung beachtenswerte Effekte. Zum einen führt der Grundsatz des Vertrauensschutzes zu einem Paradox: Ausgerechnet an den Schulen, an denen die überwältigende Mehrheit der Eltern zu G9 zurückkehren wollen, kommt der Wechsel zu G9 nicht zustande. Währenddessen er an Schulen, an denen weniger Eltern zu G9 wechseln wollen, eher möglich ist, da bei nicht gegebener Einstimmigkeit in der anonymen Umfrage leichter die Mindestschülerzahl einer Klasse von 16 erreicht wird.[63]

Nicht nur aus diesen Gründen hat bundesweit eine Gegenbewegung zu den „Reformrückabwicklern“ eingesetzt, die vor allem von Bildungsforschern und Teilen der Wirtschaft getragen wird und die in erster Linie eine Versachlichung der Debatte anstreben. Ein Ziel der Initiative war es auch, den Blick auf die Anstrengungen der Schulen zu lenken, die ähnlich groß seien dürften wie die bei der Einführung von G8. Die dort eingesetzten Kräfte gingen zu Lasten der schulinternen Weiterentwicklung von Unterricht und Schulleben. Darüber hinaus öffneten die Bildungsforscher die Perspektive auf den bildungspolitischen Gesamtzusammenhang. Durch unterschiedliche Organisations- und Strukturreformen der Gymnasien in den einzelnen Bundesländern zersplittere die gymnasiale Bildungslandschaft weiter in Deutschland, was die Beweglichkeit der Eltern bei Umzügen erschwere und die Kinder in solchen Fällen zudem zusätzlich belaste.[64]

G8 oder G9 – die Diskussionen darum reißen nicht ab, ganz gleich ob im jeweiligen Bundesland eine Rückabwicklung der Schulzeitreformen eingesetzt hat oder nicht. Stets geht es um die konkrete Ausgestaltung der Modelle, stets darum, welche Effekte eintreten. Für Reformen in der Schulpolitik gilt: Die Belastungen für die Schüler spielen eine bedeutende Rolle – vor allem, weil die Wahrnehmungen der Schüler durch die Eltern verstärkt in die politische Debatte eingespeist werden. Im Ergebnis hat man sich innerhalb von zehn Jahren allerdings nicht im Kreis gedreht – auch wenn eine (Wieder)Einführung von G9 und eine Rücknahme von G8 in weiten Teilen fast gleiche Startbedingungen geschafft hatte. Die strukturelle gymnasiale Vielfalt ist gestiegen und hat nachfrageabhängige zusätzliche Wege zum Abitur eröffnet. Wie in zehn Jahren der Implementations- und Diskussionsstand aussieht, kann heute jedoch kaum vorausgesagt werden.

Teil II: Dossier

Entwicklungen der Schulzeitverkürzung in den Ländern

Im deutschen Bildungsföderalismus vollziehen sich Reformen nur in den seltensten Fällen im luftleeren Raum – die Geschehnisse in den (Nachbar)Ländern werden stets berücksichtigt und fließen mit in die länderspezifischen Diskussionen ein. Die nachfolgende Tabelle soll einen Überblick über die Entwicklungen rund um die Einführung und der Rückkehr von G8 zu G9 geben (Stand Mai 2014).

Normative Perspektive der G8-Diskussion

Um die gymnasiale Schulzeitverkürzung ist seit Jahren eine Kontroverse entbrannt. Die Standpunkte der Befürworter und Kritiker stehen sich dabei diametral gegenüber und haben in der Diskussion – auch bei der Ursache für die Einführung sowie die Rückabwicklung der Reform – eine erhebliche Rolle gespielt.

Die Befürworter argumentieren im Kern auf einer ökonomisch orientierten, gesamtgesellschaftlichen Basis. Zum einen sehen sie ein Wettbewerbsfähigkeitsproblem, zum anderen ein Finanzierungsproblem. Das Wettbewerbsfähigkeitsproblem leitet sich daraus ab, dass sich eine steigende Nachfrage an hochqualifizierten Erwerbstätigen beobachten lässt. Darüber hinaus wird der Vergleich zum Ausland bemüht, wo die Absolventen früher die Schule verlassen und ihrem weiteren Berufsweg entgegen streben. Aufgrund demographischer Verschiebungen in der deutschen Gesellschaft wird zudem von den Befürwortern eine Finanzierungsproblematik erkannt, da ein späterer Berufseintritt das Erwerbsleben nicht ausreichend verlängert und somit der Beitrag zur Sicherung der sozialen Systeme geschmälert wird. Außerdem steht die Finanzierungsproblematik auch in direktem Zusammenhang mit den Haushalten der Länder, weil die Einsparung eines ganzen Schuljahres zahlreiche Lehrerstellen einsparen kann, was wiederum die klammen Kassen der Länder entlastet.[65]

Allerdings bringen die G8-Befürworter auch schulstrukturelle Argumente vor: Die Lernzeit innerhalb von G9 werde nicht voll genutzt, man gehe ineffizient mit der zur Verfügung stehenden Zeit um. Dementsprechend könne durch eine optimalere Zeitnutzung ein Schuljahr eingespart werden, ohne dass es zu einem Niveauverlust komme. Des Weiteren stärke eine Schulzeitreduzierung die Eigenverantwortlichkeit der jungen Erwachsenen.[66]

Demgegenüber bezweifeln die Kritiker von G8 die Stichhaltigkeit der vorgebrachten Argumente. Die Finanzierungsdimension blende komplett aus, dass es nur zu scheinbaren Einspareffekten komme, weil die Ressourcen an anderer Stelle ausgegeben würden. So würden eingesparte Lehrerstellen durch den Ausbau der notwendigen Ganztagsangebote (über)kompensiert werden. Curricula müssten überarbeitet werden, Schulbücher müssten neu erstellt und gedruckt werden und die Universitäten müssten auf die doppelten Abiturjahrgänge vorbereitet werden. Die Wettbewerbsproblematik werde ebenfalls von den Befürwortern überschätzt, weil der bloße internationale Vergleich schlicht zu undifferenziert sei.[67] Demnach wird angeführt, dass es zum einen auch im europäischen Ausland Länder gebe, in denen ebenfalls eine neunjährige Gymnasialzeit die Regel sei – wie beispielsweise in England oder Italien. Zum anderen falle eine Vergleichbarkeit schwer, da in den Bildungssystemen mit achtjährigem Bildungsgang nur die Fachhochschulreife erworben werde oder Eignungsprüfungen für die Universitäten notwendig seien. Wenn die Absolventen im internationalen Vergleich jünger seien, liege dies vor allem an anderen Faktoren, wie einer fehlenden Wehr- oder Zivildienstzeit (mittlerweile in Deutschland entfallen).[68]

Die größte Sorge der G8-Kritiker gilt jedoch der Qualität gymnasialer Bildung: Man befürchtet ein abnehmendes Leistungsniveau. Weil Zeit im Unterricht fehle, könne vor allem weniger in die Tiefe von Themen gegangen werden. Insgesamt marschiere man sehendes Auges auf einen Qualitäts- und Wertverlust des Abiturs zu. Dementsprechend stellten sich ebenfalls negative Auswirkungen auf die Studien- und Berufsorientierung ein. Des Weiteren gelten die Sorgen der Kritiker der stressbeeinflussten Persönlichkeits- sowie der psychosozialen Entwicklung der Schüler. Insbesondere die Eltern teilen diese letztgenannten Punkte, hinzu kommen aus deren Perspektive die Klagen über nur noch eingeschränkte Möglichkeiten gemeinsamer Familienaktivitäten und Zeit für außerschulische Aktivitäten.[69]

Wissenschaftlicher Forschungsstand

Auch wenn die Frage nach einem acht- oder neunjährigen Bildungs-Königsweg kontrovers diskutiert wird, erscheint es oftmals in der Debatte so, dass die wissenschaftlichen Forschungsergebnisse nicht oder nicht ausreichend rezipiert werden.[70] Bildungsforscher kritisieren zudem den selektiven und ‚reißerischen‘ Transport von Studienergebnissen durch Teile der Medien, was zu einer Entsachlichung der Diskussion beiträgt. Letztlich stützen sich sowohl die Befürworter als auch die Kritiker auf eine sehr dünne empirische Forschungslage. So existieren beispielsweise keine aktuellen Forschungsarbeiten zu einem internationalen Schulzeitvergleich, obwohl diese Argumente in der Bewertung von G8 immer wieder eine große Rolle gespielt haben.[71] Ganz grundsätzlich wird aus den Reihen der Bildungsforscher auch kritisiert, dass bei Bundesländervergleichen die Komplexität bewusst reduziert werde, um zu ‚genehmen‘ Aussagen zu kommen – was oftmals nur durch die Vernachlässigung von intervenierenden Variablen erreicht werde.

Darüber hinaus beziehen sich die Pro- und Contra-Argumente oft auf einen monokausalen Zusammenhang, dabei haben Studien schon früh belegt, dass vor allem schulorganisatorische und situative Bedingungen Einfluss auf das Stress- und Belastungserleben von Schülern nehmen und nicht ausschließlich die Schulzeitverkürzung – ein Befund, der auch für Lehrer Gültigkeit besitzt.[72] Ein Beitrag der jüngeren Vergangenheit, der einen Überblick über den Forschungsstand gibt, weist daraufhin, dass keine nennenswerten Leistungsunterschiede zwischen G8- und G9-Schülern identifiziert werden konnten.[73] Die Sicht der Praktiker ist allerdings manchmal etwas selbstkritischer: Karin Hechler, Leiterin der Schillerschule in Frankfurt, betont zwar, dass die Noten der G8-Kinder besser oder gleich geblieben seien, jedoch sei die Fehlertoleranz bei G8 größer geworden – für dieselbe Leistung gebe es bessere Noten.[74] Weil im Vergleich zwischen G8 und G9 ein Leistungs- und Entwicklungsgefälle nach wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht belastbar erscheint, spielt die subjektive – teilweise auch ideologisch oder von Wertvorstellungen geprägte – Wahrnehmung der Eltern eine wichtige Rolle. Die Bildungsforscherin Prof. Dr. Isabell van Ackeren meint, dass der Wunsch der Eltern nach G9 möglicherweise mit einer gesamtgesellschaftlichen Wahrnehmung zu tun habe. „Beschleunigung und Stress in der Arbeitswelt, Mobilitätsdruck, Berufstätigkeit beider Elternteile und die Herausforderung, unterschiedliche Lebensbereiche unter zunehmenden Zeitdruck miteinander zu vereinbaren. Möglicherweise verknüpft sich dies mit der Wahrnehmung von Schule als Einrichtung, in der Bildung immer mehr verdichtet und standardisiert wird.“[75]

Überblick der Ausgestaltung gymnasialer Bildungsgänge in Hessen

In beiden gymnasialen Bildungsgängen ist die Voraussetzung für die Absolvierung des Abiturs die Anzahl von 265 geleisteten Jahreswochenstunden. Im Durchschnitt bedeutet dies für einen G9-Schüler 30 abzuleistende Wochenstunden; für einen G8-Schüler ist diese Wochenstundenanzahl auf 33 angestiegen. Dabei ist zu beachten, dass es sich bei den Zahlen um Durchschnittswerte handelt, die je nach Jahrgangsstufe, Bundesland und Schule variieren. Oftmals sieht eine Staffelung wie folgt aus: Fünfte und sechste Klasse 30 Stunden, siebte 32, achte 34, neunte 36 – zuzüglich Hausaufgaben.[76]

Probleme bei der Umstellung (zurück) auf G9

Zusätzlich zu den in der Falldarstellung skizzierten Problemen stellen sich weitere Schwierigkeiten dar, die in der Debatte – zum Teil antizipierend – diskutiert und von den Kritikern der Umsetzung ins Feld geführt werden.

  • Das anonyme Umfrageverfahren an den Schulen wird ganz grundsätzlich kritisiert, weil es erheblichen Druck auf Schüler und Eltern ausüben kann, was bis zu Fällen von Mobbing führt. Ob dafür dann schon die Politik verantwortlich zu machen sei, ist eine Frage, die von Regierung und Opposition unterschiedlich beantwortet wird.[77]
  • Auch sind im weiteren Schulverlauf Problemszenarien denkbar: ein G8-Schüler bleibt sitzen und in der Jahrgangsstufe darunter gibt es nur G9 Klassen; sofern das Kind an der Schule bleiben möchte, kommt es in eine G9-Klasse. Es muss dann anstelle der ursprünglich vorgesehenen acht Jahre zehn Jahre absolvieren. Ein solcher Fall ist nicht durch den Vertrauensschutz abgedeckt. Ein weiteres Szenario sieht vor, dass eine laufende 5. Jahrgangsstufe bei G8 bleibt und die 6. zu G9 wechselt – die 5. holt die 6. dann ein.[78]
  • Der Weg zurück zu G9 ist allgemein mit vielen Stolperfallen und Problemen gepflastert: Nicht nur müssen neue Lehrpläne erdacht werden, auch müssen viele Schulbücher neu erstellt werden. Auch steigt der Lehrerbedarf an, zusätzliche Pädagogen belasten jedoch den Landeshaushalt.
  • Nicht zu vernachlässigen ist auch der „Nuller-Jahrgang“. Am Extrembeispiel Niedersachsen lässt sich dieses Phänomen gut darstellen. Dabei bringt die Umstellung von G8 auf G9 ebenso wie der Wechsel von G9 auf G8 eine Verschiebung der Abiturjahrgänge hervor – nur dass es keine doppelten Abiturjahrgänge wären, sondern ein Jahrgang ohne Absolventen. Die Auswirkungen auf die Arbeitswelt und Hochschulen sind dementsprechend.[79] Im Vergleich zu Niedersachsen ist in Hessen die Situation weniger dramatisch, da es durch die stufenweise Einführung von G8 keine doppelten Abiturjahrgänge gab, sondern in den Jahren 2012, 2013 und 2014 verstärkte Abiturjahrgänge (um ca. 60 % 2013). Entsprechend der Einführungsgeschwindigkeit von G9-Bildungsgängen je nach Optionsentscheidung der Schulen kommen weniger Abiturabsolventen in den Jahren 2019, 2020 und 2021 auf Hessen zu. Durch das parallele Angebot von G8- und G9-Bildungsgängen ist dieser Effekt allerdings nicht so stark ausgeprägt und davon abhängig, wie viele Schulen tatsächlich zurück zu G9 wechseln.